Es ist ein etwas ande­res Buch, die­ses 2018 bei Ull­stein erst­mals erschie­ne­ne „Lob der Erde“ – ein sehr per­sön­li­ches, kon­tem­pla­ti­ves Werk, in dem der korea­nisch-deut­sche Phi­lo­soph Byung-Chul Han sei­ne Erfah­run­gen und Gedan­ken aus der Beschäf­ti­gung mit sei­nem Gar­ten schöpft und reflek­tiert.

Sein Schrei­ben ist eine durch­ge­hen­de poe­ti­sche Medi­ta­ti­on. Wenn ich sei­nen Beob­ach­tun­gen, sei­nen Hand­grif­fen, sei­nem Be-Wun­dern fol­ge, füh­le ich mich sehr ver­bun­den. Vie­les ent­spricht mei­nem eige­nen Erle­ben.

Neben dem absichts­lo­sen Strei­fen durch eine Stadt, dem Ent­de­cken, das in der groß­städ­ti­schen Kako­pho­nie sel­ten Zeit und Raum zum Inne­hal­ten bereit hält, strei­fe ich ger­ne durch Wald und Feld – vor allem durch den Wald. Ich lie­be sei­ne Gerü­che nach Erde und zer­fal­len­dem Holz, beson­ders im Herbst. Das Zwit­schern und die Warn­ru­fe der Vögel, die Strah­len der Son­ne, ihr gedämpf­tes Durch­drin­gen von Blät­tern und Nadeln, der Regen, der ver­zö­gert durch das Blät­ter­dach fällt, oder der Blick auf Moos, das man­che Wald­stü­cke wie ein rie­si­ges Kis­sen durch­zieht – all das löst Glücks­ge­füh­le in mir aus.
Sei­ne Viel­falt an Grün­tö­nen, oft durch­setzt mit dem Braun von Nadeln oder Zap­fen, berührt mich durch Schön­heit und Weich­heit. Setzt man den Fuß auf die­ses Kis­sen und sinkt leicht ein, ist es wie ein Schwe­ben – und doch stellt sich zugleich Gebor­gen­heit ein. Viel­leicht liegt mei­ne schon immer wäh­ren­de Affi­ni­tät im Namen: Sil­va ist das latei­ni­sche Wort für Wald und bedeu­tet sinn­ge­mäß „die aus dem Wald Stam­men­de“.

Doch das ist mein Emp­fin­den. Die Kunst Byung-Chul Hans besteht dar­in, sein zutiefst per­sön­li­ches Erle­ben in ein altes kol­lek­ti­ves Wis­sen ein­zu­we­ben. Er setzt phi­lo­so­phi­sche Bezü­ge, etwa zu Heid­eg­ger, des­sen schwie­ri­ge Spra­che er in eine neue, zar­te Erfah­rungs­welt – den Gar­ten – tran­skri­biert.

So ent­stand weni­ger ein klas­sisch-phi­lo­so­phi­sches Trak­tat als viel­mehr eine poe­tisch-phi­lo­so­phi­sche Medi­ta­ti­on über Natur, Zeit, Schön­heit und das ver­lo­re­ne Ver­hält­nis des moder­nen Men­schen zur Erde. Da sich das Buch in vie­le von­ein­an­der unab­hän­gig les­ba­re Kapi­tel glie­dert, ist es eine wun­der­ba­re Lek­tü­re für Men­schen, die stress­durch­zo­gen aus ihren Büros und Arbeits­stät­ten nach Hau­se kom­men und dort erst ein­mal ankom­men wol­len.
Sie kön­nen mit Han in sei­nen Gar­ten gehen, der zum Ort der Ent­schleu­ni­gung, der Hei­lung und der Stil­le wird – auch als Kon­trast zur digi­tal beschleu­nig­ten Welt. Der Gar­ten wird zum kos­mi­schen Raum, in dem wir uns wie­der mit der Erde und dem Sein ver­bun­den füh­len dür­fen, im Rhyth­mus der Jah  res­zei­ten: „zyklisch, lang­sam, sinn­lich“.

Byung-Chul Han ist bekannt für sei­ne poin­tier­te Kri­tik an der post­mo­der­nen Gesell­schaft: Über­wa­chung ohne sicht­ba­re Gewalt, Selbst­aus­beu­tung im Namen der Frei­heit, der Ver­lust des Ande­ren durch per­ma­nen­te Selbst­be­züg­lich­keit. Wer­ke wie „Müdig­keits­ge­sell­schaft“, „Psy­cho­po­li­tik“ oder „Die Aus­trei­bung des Ande­ren“ haben ihn zu einem der meist­ge­le­se­nen Phi­lo­so­phen unse­rer Zeit gemacht.

Mit „Lob der Erde“ geht Han einen bemer­kens­wert ande­ren Weg – vom dia­gnos­ti­schen Sezie­ren hin zur poe­ti­schen Rück­bin­dung. Den­noch ist er weit ent­fernt von einer Kapi­tu­la­ti­on vor dem Sys­tem, wenn er etwa über die Erde als Orga­nis­mus schreibt, die durch mensch­li­che Aus­beu­tung „fast aus­blu­tet“.

Byung-Chul Han, Lob der Erde, Ull­stein Buch­ver­lag 2018

Auf einen Blick

Titel

Lob der Erde — Byung-Chul Han

For­mat

poe­tisch-phi­lo­so­phi­scher Essay, 128 Sei­ten

Emp­foh­len für

Leser:innen mit Sinn für Natur, Stil­le und Tie­fe

Lese­stim­mung

ruhig, kon­tem­pla­tiv, ent­schleu­nigt

Lese­tem­po

in Etap­pen oder als täg­li­che Refle­xi­on

Kon­text

ide­al als Gegen­ent­wurf zum digi­ta­len Over­load

Mein Ein­druck

Ein stil­les, kraft­vol­les Buch über das Mensch­sein im Rhyth­mus der Erde

Fazit

„Lob der Erde“ ist ein stil­les, bei­na­he zärt­li­ches Buch – und gera­de dar­in liegt sei­ne Kraft. Byung-Chul Han zeigt, dass Phi­lo­so­phie nicht nur Dia­gno­se unse­rer Gegen­wart sein kann, son­dern auch Ein­la­dung zur Rück­kehr in eine ver­lo­ren geglaub­te Nähe zur Welt.

Wer sich auf sei­ne poe­ti­schen Bil­der ein­lässt, fin­det hier nicht nur Denk­an­stö­ße, son­dern auch Atem­pau­sen für Herz und Geist. Ein Buch, das man nicht in einem Zug liest, son­dern immer wie­der zur Hand nimmt – wie ein ver­trau­tes Gespräch, das nie endet.

Titel Lob der Erde
Autor Byung-Chul Han
Erschie­nen 2018
Ver­lag Ull­stein Buch­ver­lag