Am Ende wür­de Mat­hil­de fra­gen: “Sind wir für das ver­ant­wort­lich, was uns zustößt? Sieht uns das, was uns zustößt, immer irgend­wie ähn­lich?“

Mat­hil­de lebt mit ihren drei Söh­nen in Paris. Ihr Mann ist gestor­ben, doch Mat­hil­de schlägt sich nicht eben so durch, wie es das rea­le Kli­schee der Allein­er­zie­hen­den zumeist bedeu­tet. Sie hat einen Job, auf den sie sich freut, ihre Kin­der sind gut gera­ten. Doch als sie es für einen kur­zen Moment wagt, ihrem Chef zu wider­spre­chen – und damit aus ihrer Rol­le als ewig duld­sa­me und loya­le Mit­ar­bei­te­rin eines nar­ziss­ti­schen Alpha­tiers her­aus­tritt — ändert sich ihre Situa­ti­on von einem Moment auf den nächs­ten. „An jenem Tag Ende Sep­tem­ber ist in einem Zeit­raum von zehn Minu­ten etwas gekippt. Etwas, das sie weder gese­hen noch gehört hat­te, …“

Es sind die unzäh­li­gen klei­nen und gro­ßen Bos­hei­ten, die der gekränk­te Mann, ihr Vor­ge­setz­ter, mit Sys­tem und eini­ger Ver­bis­sen­heit betreibt, um sie nach und nach völ­lig zu iso­lie­ren, die uns erschüt­tern. Dabei ist es ihm gleich­gül­tig, wie offen­sicht­lich sein Rache­feld­zug ist. Denn er ist der Stär­ke­re. Er wird die­sen unglei­chen Kampf auf jeden Fall gewin­nen. Mat­hil­de ver­sucht es wei­ter, mit ihrem bis­he­ri­gen gedul­di­gen, nach­sich­ti­gen Schwei­gen. „Weil Ver­rat für sie nicht in Fra­ge kam, beklag­te sie sich bei nie­man­dem. Sie schwieg. Doch Jac­ques mach­te so wei­ter, jeden Tag ein wenig ärger­li­cher, distan­zier­ter, rück­sichts­lo­ser.“

Der Arzt Thi­bau­lt, des­sen Geschich­te par­al­lel erzählt wird, ist auch ein Strau­cheln­der und eben­so ein­sam, wie Mat­hil­de. Gera­de hat sei­ne Freun­din ihn ver­las­sen. Auch in ihm will eine Geschich­te ver­ar­bei­tet wer­den. Doch er wird nicht zum strah­len­den Hel­den für Mat­hil­de. Ihre Wege kreu­zen sich nur zart, von bei­den unbe­merkt. „Er betrach­tet die­se Stadt, die­se Über­la­ge­rung von Bewe­gun­gen. Die­se Ansamm­lung unend­lich vie­ler Kreu­zungs­punk­te, an denen man sich nicht begeg­net.“

Der Roman „Ich hat­te ver­ges­sen, dass ich ver­wund­bar bin“ der fran­zö­si­schen Schrift­stel­le­rin Del­phi­ne de Vigan, ist schon 2009 erschie­nen. Ich habe ihn, für die­se Rezen­si­on, aber auch auf­grund einer eige­nen Erfah­rung, noch ein­mal gele­sen. Denn auch ich hat­te ver­ges­sen, dass ich ver­wund­bar bin. Die Qua­li­tät des 252 Sei­ten schma­len Ban­des liegt in der nahen und zugleich pro­to­kol­la­ri­schen Ruhe, mit der die Erzähl­stim­me Mat­hil­des ihren, zunächst nur schlei­chend ein­set­zen­den Erkennt­nis­pro­zess beschreibt. Die Dis­kre­panz zwi­schen dem Wer­te­sys­tem, an das Mat­hil­de, nicht ein­mal bewusst, glaubt und der rea­len, immer noch männ­lich domi­nier­ten, Welt, erschließt sich erst nach und nach, aber dafür umso schmerz­haf­ter.

Ein gro­ßes klei­nes Buch.

Auf einen Blick

Titel

Ich hat­te ver­ges­sen, dass ich ver­wund­bar bin — Del­phi­ne de Vigan

For­mat

Roman, 252 Sei­ten

Emp­foh­len für

Leser:innen, die sich für fei­ne psy­cho­lo­gi­sche Beob­ach­tun­gen und die Macht­struk­tu­ren des All­tags inter­es­sie­ren

Lese­stim­mung

beklem­mend, lei­se, ein­dring­lich

Lese­tem­po

flie­ßend les­bar, den­noch mit Nach­hall – eher in Etap­pen auf­neh­men

Kon­text

Gesell­schafts­kri­tik, Geschlech­ter­rol­len, Ver­letz­lich­keit im moder­nen Arbeits­le­ben

Mein Ein­druck

Ein stil­les, gro­ßes klei­nes Buch, das lan­ge nach­wirkt und uns an unse­re eige­ne Ver­wund­bar­keit erin­nert

Film

“Die Tage unter Null” aus dem Jahr 2014 ist eine fil­mi­sche Adap­ti­on des gleich­na­mi­gen Romans von Del­phi­ne de Vigan (“Les heu­res sou­ter­rai­nes”), der in Deutsch­land unter dem Titel “Ich hat­te ver­ges­sen, dass ich ver­wund­bar bin” erschien.

Fazit

„Ich hat­te ver­ges­sen, dass ich ver­wund­bar bin“ ist ein stil­ler, aber ein­dring­li­cher Roman über Macht, Ohn­macht und die schlei­chen­de Zer­stö­rung durch Demü­ti­gung. Del­phi­ne de Vigan zeigt, wie ver­letz­lich selbst ein schein­bar sta­bi­les Leben sein kann – und wie schwer es ist, die eige­ne Stim­me zu erhe­ben, wenn Schwei­gen zur Über­le­bens­stra­te­gie gewor­den ist.

Ein Buch, das kei­ne ein­fa­chen Ant­wor­ten lie­fert, aber umso kla­rer spü­ren lässt, wie nah Ver­letz­lich­keit und Stär­ke bei­ein­an­der lie­gen.

Titel Ich hat­te ver­ges­sen, dass ich ver­wund­bar bin
Autor Del­phi­ne de Vigan
Erschie­nen 2009
Ver­lag Dumont Buch­ver­lag