Lázár — Nélio Bie­der­mann

Ein Jahr­hun­der­t­ro­man über Schuld, Erin­ne­rung und die lei­sen Fol­gen des Krie­ges

Sie zeigt, wie jede Gene­ra­ti­on einer­seits für sich wirkt und zugleich auch ein Abbild ihrer Zeit ist – und in wei­te­ren Ebe­nen auch in den Kin­dern, den unaus­ge­spro­che­nen Sät­zen, den nie auf­ge­deck­ten Fami­li­en­ge­heim­nis­sen und den Trau­ma­ta, die inner­fa­mi­liä­re Ereig­nis­se und Krie­ge als Nar­ben hin­ter­las­sen, fort­wirkt. Sie zeigt das Inein­an­der-Ver­schränkt-Sein des Lebens mit sei­ner Zeit.

Der erst 22 Jah­re alte Autor, der hier die längst zurück­lie­gen­de Geschich­te sei­ner heu­te in der Schweiz leben­den Fami­lie erzählt, lie­fert einen Roman, der in sei­ner Erzähl­kunst, sei­ner Figu­ren­zeich­nung, sei­ner Tie­fe und der Viel­falt der The­men mit gro­ßen inter­na­tio­na­len Roma­nen mit­hal­ten kann.

Es ist die Geschich­te eines alten unga­ri­schen Adels­ge­schlechts, das über Gene­ra­tio­nen hin­weg von inne­ren wie äuße­ren Kri­sen geschüt­telt wird. Ihre Geschich­te ist ein Gewe­be aus Schuld, Ver­lust und Über­le­ben – ein Pan­ora­ma des euro­päi­schen 20. Jahr­hun­derts, das sich von den Vor­kriegs­jah­ren über Ent­eig­nung und Flucht bis in die Gegen­wart zieht.

Im Zen­trum steht Lajos von Lázár, ein Kind mit durch­schei­nen­der Haut und leuch­ten­den blau­en Augen, das von Geburt an anders, fast wie eine Erschei­nung ist. Sei­ne Zer­brech­lich­keit wird zum Sym­bol – für das Sicht­ba­re und das Unsicht­ba­re. Um ihn her­um ent­fal­tet sich ein viel­stim­mi­ges Tableau aus Figu­ren, die ein­an­der lie­ben, ver­ra­ten, ver­lie­ren – und doch unent­rinn­bar mit­ein­an­der ver­bun­den blei­ben.

Bie­der­mann schreibt in einer Spra­che, die zugleich sinn­lich und prä­zi­se ist. Er ent­hüllt die Tra­gö­di­en die­ser Fami­lie nicht in gro­ßen Ges­ten, son­dern in fei­nen Ver­schie­bun­gen, Bli­cken, Schwei­gen. Sei­ne Sät­ze tra­gen die Last der Geschich­te, ohne sie aus­zu­stel­len – viel­leicht wie ein Foto­al­bum, in dem die Gesich­ter mit der Zeit ver­blas­sen, die Erin­ne­run­gen aber schär­fer wer­den.

Beson­ders hart trifft uns die Erkennt­nis, wie bei­läu­fig der Krieg in die­se Welt tritt. Er kommt nicht mit Trom­pe­ten und Paro­len, son­dern schleicht sich ein – durch Gerüch­te, Befeh­le, das Ver­schwin­den von Men­schen. Der Krieg trifft auch jene, die glau­ben, nichts mit ihm zu tun zu haben. So auch Lajos von Lázár, der ent­spre­chend sei­nes gesell­schaft­li­chen Ran­ges wäh­rend des Krie­ges als Offi­zier Dienst tut. Beson­ders ein­dring­lich die Sze­ne, in der er einen Zug Men­schen durch den Ort beob­ach­tet, für den er zustän­dig ist, fast wie ein Unbe­tei­lig­ter, nur Ahnen­der:

„Es sah aus, als gin­ge ein Trau­er­zug durch die Stadt. Die Gesich­ter waren ernst und ängst­lich, man­che wein­ten auch, aber ver­hal­ten, so als woll­ten sie die Auf­merk­sam­keit, die ja dem Toten galt, nicht auf sich len­ken. … Als habe der Regen alle Geräu­sche aus der Welt gespült … Dabei waren es vie­le, an die drei­tau­send­fünf­hun­dert Men­schen, um genau zu sein. Obwohl Anfang Juli, tru­gen sie Män­tel aus dicker Wol­le oder Pelz, was ein komi­sches Bild ergab, da die Schau­lus­ti­gen, die in klei­nen Trau­ben auf dem Bür­ger­steig stan­den, som­mer­lich geklei­det waren. … Auch wirk­te es, als gäbe es zwi­schen den Trau­ern­den und jenen am Stra­ßen­rand eine unsicht­ba­re Gren­ze, als sei der Rand­stein eine unüber­wind­ba­re Schran­ke, die nicht nur von den Schau­lus­ti­gen beach­tet wur­de, son­dern auch von den Trau­ern­den, die kaum ihren Blick hoben. Was brach­te es auch, jetzt noch die Lin­den am Stra­ßen­rand, die Schau­fens­ter der Geschäf­te, den alten Haus­ein­gang, an des­sen Klin­gel­schild der Name aus­ge­tauscht war, oder die Gesich­ter der ehe­ma­li­gen Arbeits­kol­le­gen, Nach­barn und Freun­de zu sehen?“

Die bit­te­re Erkennt­nis, dass es sich um einen Zug jüdi­scher Mit­men­schen auf ihrem Weg in den Tod han­delt – wie es in so vie­len euro­päi­schen Städ­ten und Orten zur Tages­ord­nung gehör­te – wird uns nicht auf dem Sil­ber­ta­blett ser­viert. Wir müs­sen es aus­hal­ten, aus der Per­spek­ti­ve der Gaf­fer am Stra­ßen­rand auf die­sen „Trau­er­zug“ nach Ausch­witz zu schau­en, uns nicht abzu­wen­den und zu erken­nen, wie bei­läu­fig und zugleich augen­fäl­lig sich die­ser Zivi­li­sa­ti­ons­bruch vor aller Augen ereig­net hat.

Die Pri­vi­le­gie­rung der Fami­lie von Lázár endet im Lau­fe des Krie­ges – und vor allem danach. Sie ver­liert alles: Haus, Hei­mat, Sicher­heit, selbst­ver­ständ­lich geglaub­ten Stand – und ihre Flucht dau­ert an, lan­ge nach dem Ende der Kämp­fe.

„Die Ent­eig­nung war so schnell von­stat­ten­ge­gan­gen, dass Pis­ta Mona­te brauch­te, um zu begrei­fen, was gesche­hen war. Eine Stun­de, mehr benö­tig­te der neue Staat nicht, um den Men­schen alles zu neh­men.“

Erst in den 1950er Jah­ren fin­den die Nach­kom­men Zuflucht in der Schweiz.

Hier liegt eine wei­te­re, stil­le Grö­ße die­ses Romans: Er zeigt, dass Gewalt und Ver­trei­bung nicht an den Fron­ten enden. Dass die eigent­li­che Ver­wun­dung dort beginnt, wo man dach­te, geschützt zu sein. Und dass die Flucht – kör­per­lich, see­lisch, über Gene­ra­tio­nen hin­weg – nie ganz auf­hört und dass sie am Ende alle trifft.

Zwi­schen den Zei­len die­ses Romans liegt die viel­leicht ein­dring­lichs­te Bot­schaft:
Dass der Krieg nie dort bleibt, wo er begon­nen hat. Er dringt ein, unbe­merkt zunächst, in das Leben derer, die nichts von ihm wis­sen wol­len oder glau­ben, sie müss­ten sich damit nicht beschäf­ti­gen – in ihre Häu­ser, ihre Spra­che, ihre Kör­per. Und selbst wenn er längst vor­über scheint, setzt sich sei­ne Bewe­gung fort – in Erin­ne­run­gen, in Fami­li­en, in Gene­ra­tio­nen.

Lázár erin­nert uns dar­an, wie nah das Unheil der Geschich­te immer ist, gera­de wenn wir glau­ben, es gin­ge uns nichts an. Es ist eine War­nung, die nicht laut wer­den muss, um gehört zu wer­den.

Lázár ist für mich eine Ent­de­ckung. Wenn Nélio Bie­der­mann auch künf­tig die­ses Welt­ni­veau hal­ten kann, haben wir einen neu­en Star am Lite­ra­tur­him­mel.

Auf einen Blick

Titel Lázár — Nélio Bie­der­mann
For­mat Gene­ra­tio­nen­ro­man, 416 Sei­ten
Emp­foh­len für Leser:innen, die Fami­li­en­ge­schich­ten, his­to­ri­sche Tie­fe und poe­ti­sche Spra­che schät­zen
Lese­stim­mung ernst, nach­denk­lich, still bewe­gend
Lese­tem­po eher lang­sam, mit Pau­sen zum Nach­spü­ren
Kon­text Roman eines jun­gen Autors, der die Geschich­te sei­ner Fami­lie lite­ra­risch ver­ar­bei­tet
Mein Ein­druck Ein erstaun­lich rei­fes Werk über Erin­ne­rung, Schuld und das Wei­ter­wir­ken von Geschich­te in uns allen

Fazit

„Lázár“ ist ein stil­ler, gro­ßer Roman, der unter die Haut geht.
Nélio Bie­der­mann gelingt das Kunst­stück, die Geschich­te eines Jahr­hun­derts in die einer Fami­lie zu fas­sen – mit einer Spra­che, die mehr andeu­tet als erklärt, und Bil­dern, die lan­ge nach­hal­len.

Er zeigt, wie nah die Ver­gan­gen­heit uns bleibt – und dass der Krieg nie wirk­lich zu Ende ist, solan­ge sei­ne Spu­ren in Kör­pern, Bezie­hun­gen und Erin­ne­run­gen fort­be­stehen.
Ein Buch, das man nicht ein­fach liest, son­dern das einen liest – Schicht für Schicht.

Titel Lázár
Aut­hor Nelio Bie­der­mann
Erschie­nen 2025
Ver­lag rowohlt Ver­lag