Muna oder Die Hälfte des Lebens von Terézia Mora – ein Roman über Abhängigkeit, Macht und leises Erwachen

Wir alle kennen eine Frau wie Muna – oder haben vielleicht sogar selbst Ähnliches erlebt: Irgendwann taucht der Falsche auf. Der, den wir – geblendet von Sehnsucht und Ahnung – für den besonders Richtigen halten. Und dann, ja, dann beginnt ein langer Weg durch eine „toxische Beziehung“, wie das im Instagram-Sprech heißt – eine fatale Liebesgeschichte, wie sie Terézia Mora in ihrem 2023 erschienenen Roman Muna oder Die Hälfte des Lebens mit schmerzhafter Klarheit erzählt.
Doch die Schriftstellerin bleibt nicht an der Oberfläche einer ohnehin schon an Obsessionen, Irrungen und emotionalen Spiegelungen reichen Geschichte, sondern blickt tief in die Seelen ihrer Figuren.
Muna ist jung und klug und hat ihr Leben vor sich, als sie auf den deutlich älteren Lehrer und Fotografen Magnus trifft. Der Fall der Mauer hätte ihre Chance sein können, ihn nie wiederzusehen – und das alles nicht erleben zu müssen. Doch das Schicksal dreht manchmal komische Volten. Sieben Jahre nachdem Magnus nach einer einzigen Nacht aus ihrem Leben verschwindet, trifft sie ihn wieder – und mit ihm lebt sie all die Projektionen von Liebe, derer sie habhaft werden kann.
Erst nach und nach werden wir gewahr, wie tief die Abgründe sind, in die uns Mora mitnimmt. Aber hätten wir nicht schon ganz am Anfang stutzig werden müssen? In der missglückten Liebe, ebenso wie in diesem Roman, suchen auch wir noch im Nachhinein nach den Frühzeichen der Katastrophe. Und in beiden werden wir fündig. Es geschieht beiläufig. Etwa, wenn die lebensunerfahrene Muna erzählt, wie sie, noch bevor irgendetwas begann, eines Tages in die Redaktion kommt, in der sie Magnus kennengelernt hat, und seine abwertende Reaktion auf sie fast zärtlich in sich aufnimmt:
„Kannst du nicht mal weniger Krach machen?! Er griff sich sogar ans Ohr, so laut war es, wie ich über das knarzende Parkett getrampelt kam.“
Viel Kälte ist in diesem Mann und der unbedingte Wille zu obsiegen, sich auf keinen Fall emotional einzulassen auf die Beziehung zu dieser schönen jungen Frau, sondern sie zu beherrschen und letztlich zu quälen. Und nein, das ist nicht sexy, wie es das auch nie bei Christian Grey war. Muna lernen wir kennen in ihrer verzweifelten Sehnsucht nach Liebe – einer Sehnsucht, die sie auf diesen sie nie wirklich liebenden Mann projiziert.
Wir lernen aber – und das ist das wirklich Besondere an diesem Roman –, dass nichts davon Munas Schuld ist. Weder das zerrissene System, in dem sie aufwächst, das angepasste und aus Misstrauen verschlossene Menschen hervorbringt, noch die Beziehung, die zur Obsession wird, zu einem Spiegel ihrer eigenen Ohnmacht.
Mora setzt damit ein Thema fort, das sich wie ein stiller roter Faden durch ihr Werk zieht: das Fremdsein im Eigenen, die innere Sprachlosigkeit, die aus gesellschaftlicher und persönlicher Entwurzelung entsteht. Schon in „Alle Tage“ und „Das Ungeheuer“ untersucht sie, wie Menschen versuchen, ihr Ich gegen eine überwältigende Außenwelt zu behaupten. „Muna“ steht in dieser Linie, aber sie verdichtet das Existenzielle ins Intime – aus der großen Welt wird eine Beziehung, aus der Entfremdung ein Zweiklang aus Begehren und Ohnmacht.
In präzisen, oft schmerzhaft klaren Sätzen zeichnet Mora das Porträt einer Frau, die ihre Grenzen immer weiter verschiebt, bis nur noch die Frage bleibt, wer sie ohne den anderen ist.
„Er wartet nicht auf dem Bahnsteig auf mich, das war auch besser so. Ich wollte nicht nach Reise stinken, wenn wir uns umarmten. … … Ich klingelte. Keine Antwort. Ich schrieb noch eine Nachricht, dass ich jetzt da sei, ich stehe vor dem Haus, dann setzte ich mich auf den Absatz vor der Tür. Nachbarn kamen nach Haus, ich lächelte sie an, damit sie sahen, dass ich fröhlich und hoffnungsvoll wartete, ich hielt die Knie aneinandergedrückt und rückte noch ein wenig näher an die Wand. … Später wurde es kalt, …. Ich drückte mich so weit in die Ecke, wie es ging, lehnte den Kopf an die Wand. Im Traum roch ich sein Rasierwasser.“
Muna oder Die Hälfte des Lebens ist ein Roman über emotionale Abhängigkeit, über das Verschwinden des Ichs in der ungesunden Liebe – und über die Möglichkeit, dennoch aufzustehen.
Was Mora so großartig gelingt, ist das hörbare Schweigen zwischen den Sätzen. Sie schreibt keinen klassischen Liebesroman, sondern eine Topografie der Verletzungen, die sich im Alltäglichen einnisten. Jeder Dialog, jede Beschreibung ist ein Puzzlestück zu einem Gesamtbild über das, was sonst nicht zu erklären ist.
Die Sprache selbst wird zur Erzählerin: kühl, sezierend, dabei von einer fast grausamen Empathie. Mora lässt ihre Ich-Erzählerin reden, ist ihr sehr nah. Sie bewertet nicht, sondern lässt uns spüren, wie schwer es sein mag, sich aus einer Liebe zu lösen, die längst Zerstörung geworden ist, weil die Sehnsucht nach Erlösung zur fixen, an einen anderen Menschen gekoppelten Idee geworden ist.
So liest sich „Muna“ zugleich als zeitgenössische Variation jener großen europäischen Frauenfiguren, die an ihrer Liebe zu scheitern drohten. Doch Muna ist keine Gestrige, ist ganz im Hier und Heute verankert. Mora führt diese Tradition weiter, aber sie bricht sie zugleich.
Muna oder Die Hälfte des Lebens ist auch ein Roman über das Verhältnis von Macht und Sprache. Magnus spricht, benennt, bestimmt – Muna hört, schweigt, denkt, aber verstummt. Ihre Welt schrumpft, bis sie selbst nur noch in den Begriffen des anderen existiert. Doch Mora legt in dieses Verstummen keine moralische Anklage, sondern eine subtile Erkenntnis: dass Liebe, wenn sie sich ihrer Grenzen nicht bewusst ist, in Besitz umschlägt.
Muna und Magnus stehen sich nicht nur emotional, sondern auch sprachlich als Gegenpole gegenüber. Schon im Gleichklang der beiden Namen Muna/Magnus liegt das Versprechen und die Gefahr: Nähe ohne Gleichgewicht.
Am Ende bleibt Muna nicht erlöst, aber auch nicht verloren. Sie steht in einem Dazwischen, in dieser „Hälfte des Lebens“, die Mora im Titel aufruft: zwischen Abhängigkeit und Selbstbestimmung, zwischen Scham und Klarheit. Und vielleicht liegt genau darin ihre Größe – dass sie überlebt, ohne zu siegen, dass sie versteht, ohne zu verzeihen.Muna ist ein Roman, der nicht tröstet, aber versteht, was viele im Außen nicht verstehen: Warum bleibt sie? Warum geht sie nicht einfach?
