Thomas Melle: Haus zur Sonne
Sollte man ausgerechnet im November ein Buch empfehlen, in dem der namenlose manisch-depressive Protagonist fast durchgängig über seinen eigenen Selbstmord verhandelt? Ich meine: Ja. Weil es um nicht weniger geht als das Leben selbst. Weil es um einen faustischen Pakt geht. Und weil wir Figuren entdecken wie in Thomas Manns größtem Werk, dem Zauberberg.

Willkommen im Haus zur Sonne
Für Tomas Melles namenlosen Protagonisten scheint sich, als er erschöpft und lebensmüde nach seiner letzten, der bisher heftigsten Episode seiner bipolaren Krankheit einen Termin im Jobcenter wahrnehmen muss, die Lösung all seiner Probleme aufzutun. In einer Broschüre versprechen die Betreiber im „Haus zur Sonne” das scheinbar Unmögliche: eine staatlich finanzierte Institution, in der suizidale Menschen ihre letzten Wünsche erfüllt bekommen. Eine letztes Mal den Moment absoluten Glücks erleben, virtuell, halluzinatorisch, grenzenlos. Der Preis? Der eigene Tod. Ein faustischer Pakt für das 21. Jahrhundert, der dennoch die philosophischen Kernfragen der letzten 2000 Jahre verhandelt: Was ist Glück? Und: Wofür leben wir?
„In einem Meer aus Schmetterlingen versinken. Bei der eigenen Beerdigung dabei sein, dort mithören, mitfühlen. Saufen, bis wir schweben. Essen, ohne satt und dick zu werden. Durch die Wüste wandern, bis zum Ende. Lebensgefährlich verletzt werden, mit einer Wunde wie Jesus — und sie wächst vor aller Augen zu. Sich wegbekamen können. Gesehen werden. Erkannt werden als das, was ich wirklich bin. Die Wirklichkeit einmal im Ganzen sehen. Eine neue Form erfinden, irgendwo, die gilt. Etwas erschaffen, das etwas ändert. Sich einmal mit einem Menschen wirklich verstehen.“
Doch — abgekämpft vom immer gleichen Kampf gegen die eigenen, auch mit Medikamenten nicht mehr steuerbaren Dämonen, will er in dieser Ruhe nach dem Sturm nur eines: dauerhafte Ruhe. Erlösung von einer Krankheit, die ihm fast alles genommen hat – Beziehungen, soziale Kontakte, die Fähigkeit, sich selbst zu vertrauen. Die manischen Phasen haben ihn zu Taten getrieben, die im Nachhinein nur Scham hinterlassen, während die depressiven Phasen ihn in einen Stillstand zwingen, in dem selbst der Wunsch nach einem Wunsch unerreichbar scheint.
Also checkt er ein. Im „Haus zur Sonne” – dieser dystopisch-utopischen Wunscherfüllungsmaschine, die zugleich ein zynischer Abschaffungsapparat ist. So erklärt die freundliche Dame im Jobcenter, wer ein Interesse an diesem „Modellprojekt“ hat: „Tatsächlich der Staat, wie gesagt. Was er nicht mehr an jahrzehntelanger Sozialhilfe beisteuern muss, investiert er in den letzten Traum. … es wird sich zeigen, am Ende kommt er billiger weg und die Klienten finden ihr Glück.“
Melle schreibt mit dunkler Komik. Das „Haus zur Sonne” ist auch eine bittere Satire auf den unterfinanzierten Sozialstaat, auf den absurden Umgang der Gesellschaft mit psychischen Krankheiten, auf die Frage: Wie viel Selbstbestimmung ist möglich, wenn das Leben von einer Krankheit fremdgesteuert wird?
Was Thomas Melle in diesem Roman besonders gelingt ist, das Unerzählbare erzählbar zu machen. Er findet Worte für jenen Zustand zwischen Stillstand, Wahn und gedanklichem Teufelskreis, der eine Depression ausmacht. Seine Sprache ist auf eine poetische Weise nüchtern, fast protokollarisch – und gerade deshalb so erschütternd. Keine großen Gefühlsausbrüche, keine dramatischen Gesten. Nur die Loops. Die ewigen Kreisläufe eines Geistes, der sich selbst nicht entkommen kann.
Im „Haus zur Sonne” analysiert der Protagonist sein Leben. Die Erinnerungen, die durch die virtuellen Simulationen zurückkommen, sind schmerzhaft: Menschen, die einst Wegbegleiter waren und nun verloren sind. Momente, in denen die Krankheit ihm das Leben gestohlen hat. Doch in der Erfüllung seiner Wünsche – und seien es nur Sehnsüchte nach Schokolade oder der Wunsch, überhaupt noch einen Wunsch empfinden zu können – taucht plötzlich etwas Unerwartetes auf: ein Hauch von Lebenswillen.
„Und doch regte sich, als es jetzt konkret werden sollte, ein Widerstand in mir, ein Nichtloslassenkönnen. So sehr ich dieses Leben hasste, ganz lassen wollte ich es wohl nicht. Jedenfalls nicht diesen Blick. Da draußen, auf die Blätter, Wiesen, Horizonte. Die Möglichkeit dieses Blicks.“
Melles „Haus zur Sonne“ ist in seinem soghaften Verhandeln um den eigenen Tod stellenweise schwer erträglich. Doch es ist kein hoffnungsloses Buch. Im Gegenteil. Wie beim Zauberberg ist das Sanatorium ein Mikrokosmos, in dem auch die anderen Bewohner, jeder auf seine/ihre Weise, die großen Fragen der Existenz verhandelt. Allesamt lebensmüde, suchen sie dennoch das Glück, wenigstens ein letztes Mal. Sie werden zu Spiegelungen, zu Variationen derselben Frage: Wer nicht mehr leben will – will der wirklich sterben?
AUF EINEN BLICK
Titel: Haus zur Sonne – Thomas Melle
Format: Roman, 320 Seiten
Perfekt für dich, wenn:
- du bereit bist für literarischen Hardcore, der leise ist
- du dich für die Abgründe der menschlichen Psyche interessierst
- du Bücher suchst, die existenzielle Fragen stellen – und aushalten
- du Sprache schätzt, die das Unerzählbare erfahrbar macht
Lesestimmung: fordernd, komisch, hoffnungsvoll
Lesetempo: langsam, in Etappen – dieses Buch braucht Zeit
Kontext: Autofiktion, Dystopie, Satire, philosophische Literatur
Mein Eindruck: Ein Meisterwerk über Depression, Wünsche und die Frage, was uns am Leben hält
Einordnung ins Werk
Thomas Melle ist mit Die Welt im Rücken (2016) einem internationalen Publikum bekannt geworden – einem autobiografischen Buch über sein Leben mit bipolarer Störung, das in 22 Sprachen übersetzt wurde. Mit Haus zur Sonne geht Melle einen Schritt weiter. Er verlässt die reine Autobiografie und wagt sich in eine Grenzzone zwischen Realität und Fiktion, zwischen Science Fiction und gnadenloser Selbstoffenbarung.
Wo Die Welt im Rücken noch Zeugnis ablegte, wird Haus zur Sonne zur literarischen Transformation. Melle nimmt seine Krankheit nicht mehr nur zum Thema, sondern zum Ausgangspunkt für eine radikal-fantastische Skizze der Conditio humana. Das Ergebnis ist nicht weniger als ein großer deutscher Suizid-Roman in der Tradition von Hermann Hesse, Sylvia Plath oder David Foster Wallace – aber mit einem ganz eigenen, dystopisch-satirischen Dreh.
Melle schreibt sich in die Reihe der großen Sanatoriums-Romane ein: Der Zauberberg lässt grüßen, aber auch Robert Musils Mann ohne Eigenschaften mit seinem Irrenhaus-Kapitel. Nur dass Melles Sanatorium keine Lungenheilanstalt ist, sondern eine staatlich finanzierte Sterbehilfe-Einrichtung mit VR-Technologie. Eine groteske, bitterkomische Vision – und doch eine, die erschreckend plausibel wirkt.
Fazit
Haus zur Sonne ist ein schwerer Gang durch dunkle Abgründe – und doch sieht man am Ende vieles klarer. Thomas Melle gelingt das Unmögliche: Er macht Depression nicht nur beschreibbar, sondern erfahrbar. Seine Sprache seziert, ohne zu pathologisieren. Sie zeigt, ohne zu erklären. Sie hält aus, ohne zu trösten.
Zwischen all der Dunkelheit aber leuchtet etwas auf: die Macht der Wünsche, die uns am Leben halten. Die Frage, ob der Tod wirklich eine Lösung ist. Und die leise Hoffnung, dass der Erzähler am Ende noch nicht fertig ist mit Erzählen.
Ein großes, raues Buch über das Leben selbst.
WENN DIR DIESES BUCH GEFALLEN HAT:
- Die Welt im Rücken von Thomas Melle
Melles autobiografisches Buch über bipolare Störung – der Ausgangspunkt für „Haus zur Sonne” - Der Zauberberg von Thomas Mann
Das Sanatorium als Mikrokosmos der Welt – die große literarische Referenz - Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin von Delphine de Vigan
Über psychische Gewalt, Ohnmacht und die Frage: Wann zerbricht ein Mensch? - Unendlicher Spaß von David Foster Wallace
Der amerikanische Suizid-Roman über Depression, Sucht und die Suche nach Glück - Das Buch vom Leben und vom Tod von Oskar Kokoschka
Philosophische Reflexionen über den Tod – poetisch, existenziell, tröstend
Über das Buch
| Titel: Haus zur Sonne Autor: Thomas Melle Erschienen: 2025 Verlag: Kiepenheuer & Witsch Seiten: 320 Preis: 24,00 € (Hardcover) ISBN: 978–3‑462–00465‑6 Auszeichnungen: Shortlist Deutscher Buchpreis 2025, Nominierung Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2025 | ![]() |

