Tho­mas Mel­le: Haus zur Son­ne

Soll­te man aus­ge­rech­net im Novem­ber ein Buch emp­feh­len, in dem der namen­lo­se manisch-depres­si­ve Prot­ago­nist fast durch­gän­gig über sei­nen eige­nen Selbst­mord ver­han­delt? Ich mei­ne: Ja. Weil es um nicht weni­ger geht als das Leben selbst. Weil es um einen faus­ti­schen Pakt geht. Und weil wir Figu­ren ent­de­cken wie in Tho­mas Manns größ­tem Werk, dem Zau­ber­berg.


Was ist Glück?
Foto: © Syl­via Theel

Will­kom­men im Haus zur Son­ne

Für Tomas Mel­les namen­lo­sen Prot­ago­nis­ten scheint sich, als er erschöpft und lebens­mü­de nach sei­ner letz­ten, der bis­her hef­tigs­ten Epi­so­de sei­ner bipo­la­ren Krank­heit einen Ter­min im Job­cen­ter wahr­neh­men muss, die Lösung all sei­ner Pro­ble­me auf­zu­tun. In einer Bro­schü­re ver­spre­chen die Betrei­ber im „Haus zur Son­ne” das schein­bar Unmög­li­che: eine staat­lich finan­zier­te Insti­tu­ti­on, in der sui­zi­da­le Men­schen ihre letz­ten Wün­sche erfüllt bekom­men. Eine letz­tes Mal den Moment abso­lu­ten Glücks erle­ben, vir­tu­ell, hal­lu­zi­na­to­risch, gren­zen­los. Der Preis? Der eige­ne Tod. Ein faus­ti­scher Pakt für das 21. Jahr­hun­dert, der den­noch die phi­lo­so­phi­schen Kern­fra­gen der letz­ten 2000 Jah­re ver­han­delt: Was ist Glück? Und: Wofür leben wir?

„In einem Meer aus Schmet­ter­lin­gen ver­sin­ken. Bei der eige­nen Beer­di­gung dabei sein, dort mit­hö­ren, mit­füh­len. Sau­fen, bis wir schwe­ben. Essen, ohne satt und dick zu wer­den. Durch die Wüs­te wan­dern, bis zum Ende. Lebens­ge­fähr­lich ver­letzt wer­den, mit einer Wun­de wie Jesus — und sie wächst vor aller Augen zu. Sich weg­be­ka­men kön­nen. Gese­hen wer­den. Erkannt wer­den als das, was ich wirk­lich bin. Die Wirk­lich­keit ein­mal im Gan­zen sehen. Eine neue Form erfin­den, irgend­wo, die gilt. Etwas erschaf­fen, das etwas ändert. Sich ein­mal mit einem Men­schen wirk­lich ver­ste­hen.“

Doch — abge­kämpft vom immer glei­chen Kampf gegen die eige­nen, auch mit Medi­ka­men­ten nicht mehr steu­er­ba­ren Dämo­nen, will er in die­ser Ruhe nach dem Sturm nur eines: dau­er­haf­te Ruhe. Erlö­sung von einer Krank­heit, die ihm fast alles genom­men hat – Bezie­hun­gen, sozia­le Kon­tak­te, die Fähig­keit, sich selbst zu ver­trau­en. Die mani­schen Pha­sen haben ihn zu Taten getrie­ben, die im Nach­hin­ein nur Scham hin­ter­las­sen, wäh­rend die depres­si­ven Pha­sen ihn in einen Still­stand zwin­gen, in dem selbst der Wunsch nach einem Wunsch uner­reich­bar scheint.

Also checkt er ein. Im „Haus zur Son­ne” – die­ser dys­to­pisch-uto­pi­schen Wunsch­er­fül­lungs­ma­schi­ne, die zugleich ein zyni­scher Abschaf­fungs­ap­pa­rat ist. So erklärt die freund­li­che Dame im Job­cen­ter, wer ein Inter­es­se an die­sem „Modell­pro­jekt“ hat: „Tat­säch­lich der Staat, wie gesagt. Was er nicht mehr an jahr­zehn­te­lan­ger Sozi­al­hil­fe bei­steu­ern muss, inves­tiert er in den letz­ten Traum. … es wird sich zei­gen, am Ende kommt er bil­li­ger weg und die Kli­en­ten fin­den ihr Glück.“

Mel­le schreibt mit dunk­ler Komik. Das „Haus zur Son­ne” ist auch eine bit­te­re Sati­re auf den unter­fi­nan­zier­ten Sozi­al­staat, auf den absur­den Umgang der Gesell­schaft mit psy­chi­schen Krank­hei­ten, auf die Fra­ge: Wie viel Selbst­be­stim­mung ist mög­lich, wenn das Leben von einer Krank­heit fremd­ge­steu­ert wird?

Was Tho­mas Mel­le in die­sem Roman beson­ders gelingt ist, das Uner­zähl­ba­re erzähl­bar zu machen. Er fin­det Wor­te für jenen Zustand zwi­schen Still­stand, Wahn und gedank­li­chem Teu­fels­kreis, der eine Depres­si­on aus­macht. Sei­ne Spra­che ist auf eine poe­ti­sche Wei­se nüch­tern, fast pro­to­kol­la­risch – und gera­de des­halb so erschüt­ternd. Kei­ne gro­ßen Gefühls­aus­brü­che, kei­ne dra­ma­ti­schen Ges­ten. Nur die Loops. Die ewi­gen Kreis­läu­fe eines Geis­tes, der sich selbst nicht ent­kom­men kann.

Im „Haus zur Son­ne” ana­ly­siert der Prot­ago­nist sein Leben. Die Erin­ne­run­gen, die durch die vir­tu­el­len Simu­la­tio­nen zurück­kom­men, sind schmerz­haft: Men­schen, die einst Weg­be­glei­ter waren und nun ver­lo­ren sind. Momen­te, in denen die Krank­heit ihm das Leben gestoh­len hat. Doch in der Erfül­lung sei­ner Wün­sche – und sei­en es nur Sehn­süch­te nach Scho­ko­la­de oder der Wunsch, über­haupt noch einen Wunsch emp­fin­den zu kön­nen – taucht plötz­lich etwas Uner­war­te­tes auf: ein Hauch von Lebens­wil­len.

„Und doch reg­te sich, als es jetzt kon­kret wer­den soll­te, ein Wider­stand in mir, ein Nicht­los­las­sen­kön­nen. So sehr ich die­ses Leben hass­te, ganz las­sen woll­te ich es wohl nicht. Jeden­falls nicht die­sen Blick. Da drau­ßen, auf die Blät­ter, Wie­sen, Hori­zon­te. Die Mög­lich­keit die­ses Blicks.“

Mel­les „Haus zur Son­ne“ ist in sei­nem sog­haf­ten Ver­han­deln um den eige­nen Tod stel­len­wei­se schwer erträg­lich. Doch es ist kein hoff­nungs­lo­ses Buch. Im Gegen­teil. Wie beim Zau­ber­berg ist das Sana­to­ri­um ein Mikro­kos­mos, in dem auch die ande­ren Bewoh­ner, jeder auf seine/ihre Wei­se, die gro­ßen Fra­gen der Exis­tenz ver­han­delt. Alle­samt lebens­mü­de, suchen sie den­noch das Glück, wenigs­tens ein letz­tes Mal. Sie wer­den zu Spie­ge­lun­gen, zu Varia­tio­nen der­sel­ben Fra­ge: Wer nicht mehr leben will – will der wirk­lich ster­ben?


AUF EINEN BLICK

Titel: Haus zur Son­ne – Tho­mas Mel­le
For­mat: Roman, 320 Sei­ten

Per­fekt für dich, wenn:

  • du bereit bist für lite­ra­ri­schen Hard­core, der lei­se ist
  • du dich für die Abgrün­de der mensch­li­chen Psy­che inter­es­sierst
  • du Bücher suchst, die exis­ten­zi­el­le Fra­gen stel­len – und aus­hal­ten
  • du Spra­che schätzt, die das Uner­zähl­ba­re erfahr­bar macht

Lese­stim­mung: for­dernd, komisch, hoff­nungs­voll
Lese­tem­po: lang­sam, in Etap­pen – die­ses Buch braucht Zeit
Kon­text: Auto­fik­ti­on, Dys­to­pie, Sati­re, phi­lo­so­phi­sche Lite­ra­tur
Mein Ein­druck: Ein Meis­ter­werk über Depres­si­on, Wün­sche und die Fra­ge, was uns am Leben hält


Ein­ord­nung ins Werk

Tho­mas Mel­le ist mit Die Welt im Rücken (2016) einem inter­na­tio­na­len Publi­kum bekannt gewor­den – einem auto­bio­gra­fi­schen Buch über sein Leben mit bipo­la­rer Stö­rung, das in 22 Spra­chen über­setzt wur­de. Mit Haus zur Son­ne geht Mel­le einen Schritt wei­ter. Er ver­lässt die rei­ne Auto­bio­gra­fie und wagt sich in eine Grenz­zo­ne zwi­schen Rea­li­tät und Fik­ti­on, zwi­schen Sci­ence Fic­tion und gna­den­lo­ser Selbst­of­fen­ba­rung.

Wo Die Welt im Rücken noch Zeug­nis ableg­te, wird Haus zur Son­ne zur lite­ra­ri­schen Trans­for­ma­ti­on. Mel­le nimmt sei­ne Krank­heit nicht mehr nur zum The­ma, son­dern zum Aus­gangs­punkt für eine radi­kal-fan­tas­ti­sche Skiz­ze der Con­di­tio huma­na. Das Ergeb­nis ist nicht weni­ger als ein gro­ßer deut­scher Sui­zid-Roman in der Tra­di­ti­on von Her­mann Hes­se, Syl­via Plath oder David Fos­ter Wal­lace – aber mit einem ganz eige­nen, dys­to­pisch-sati­ri­schen Dreh.

Mel­le schreibt sich in die Rei­he der gro­ßen Sana­to­ri­ums-Roma­ne ein: Der Zau­ber­berg lässt grü­ßen, aber auch Robert Musils Mann ohne Eigen­schaf­ten mit sei­nem Irren­haus-Kapi­tel. Nur dass Mel­les Sana­to­ri­um kei­ne Lun­gen­heil­an­stalt ist, son­dern eine staat­lich finan­zier­te Ster­be­hil­fe-Ein­rich­tung mit VR-Tech­no­lo­gie. Eine gro­tes­ke, bit­ter­ko­mi­sche Visi­on – und doch eine, die erschre­ckend plau­si­bel wirkt.


Fazit

Haus zur Son­ne ist ein schwe­rer Gang durch dunk­le Abgrün­de – und doch sieht man am Ende vie­les kla­rer. Tho­mas Mel­le gelingt das Unmög­li­che: Er macht Depres­si­on nicht nur beschreib­bar, son­dern erfahr­bar. Sei­ne Spra­che seziert, ohne zu patho­lo­gi­sie­ren. Sie zeigt, ohne zu erklä­ren. Sie hält aus, ohne zu trös­ten.

Zwi­schen all der Dun­kel­heit aber leuch­tet etwas auf: die Macht der Wün­sche, die uns am Leben hal­ten. Die Fra­ge, ob der Tod wirk­lich eine Lösung ist. Und die lei­se Hoff­nung, dass der Erzäh­ler am Ende noch nicht fer­tig ist mit Erzäh­len.

Ein gro­ßes, rau­es Buch über das Leben selbst.


WENN DIR DIESES BUCH GEFALLEN HAT:
  • Die Welt im Rücken von Tho­mas Mel­le
    Mel­les auto­bio­gra­fi­sches Buch über bipo­la­re Stö­rung – der Aus­gangs­punkt für „Haus zur Son­ne”
  • Der Zau­ber­berg von Tho­mas Mann
    Das Sana­to­ri­um als Mikro­kos­mos der Welt – die gro­ße lite­ra­ri­sche Refe­renz
  • Ich hat­te ver­ges­sen, dass ich ver­wund­bar bin von Del­phi­ne de Vigan
    Über psy­chi­sche Gewalt, Ohn­macht und die Fra­ge: Wann zer­bricht ein Mensch?
  • Unend­li­cher Spaß von David Fos­ter Wal­lace
    Der ame­ri­ka­ni­sche Sui­zid-Roman über Depres­si­on, Sucht und die Suche nach Glück
  • Das Buch vom Leben und vom Tod von Oskar Kokosch­ka
    Phi­lo­so­phi­sche Refle­xio­nen über den Tod – poe­tisch, exis­ten­zi­ell, trös­tend

Über das Buch
Titel: Haus zur Son­ne
Autor: Tho­mas Mel­le
Erschie­nen: 2025
Ver­lag: Kie­pen­heu­er & Witsch
Sei­ten: 320
Preis: 24,00 € (Hard­co­ver)
ISBN: 978–3‑462–00465‑6
Aus­zeich­nun­gen: Short­list Deut­scher Buch­preis 2025, Nomi­nie­rung Wil­helm Raa­be-Lite­ra­tur­preis 2025
Thomas Melle Haus zur Sonne KiWi